Weil die Academia Tancredi bereits mehrfach auf die jahrelangen Verbrechen unserer Gesellschaft an unseren Kindern hingewiesen hat, hier ein Auszug aus einem aktuellen Interview des Kindheitsforschers Michael Hüter mit dem Magazin "Multipolar". Die Hervorhebungen stammen von der Academia Tancredi.
Hier geht es zum vollständigen Interview: https://multipolar-magazin.de/artikel/ein-kulturelles-versagen
Hier geht es zur Internetseite von Michael Hüter und seinem aktuellen Buch "Kindheit 6.7", das die Academia Tancredi sehr zur Lektüre empfiehlt und das inzwischen auch auf Englisch erhältlich ist: https://www.michael-hueter.org/kindheit_6_7

Multipolar: Aufgrund der freigeklagten RKI-Protokolle wird im deutschen Bundestag derzeit über eine Aufarbeitung der Corona-Politik diskutiert.
Einige fordern einen Untersuchungsausschuss oder eine
Enquete-Kommission, andere äußern sich verhaltener und wollen keine
„Sündenböcke“ suchen. Kinder waren von der Krankheit kaum betroffen, jedoch gleichzeitig die Gruppe, bei der Maßnahmen am stärksten umgesetzt wurden. Der Deutsche Caritasverband hat jüngst betont,
dass Kinder in der Zeit „unverhältnismäßig stark gelitten“ hätten. Wie
passt das zusammen: Auf der einen Seite das geringe Risiko, schwer zu
erkranken und die Krankheit selbst zu verbreiten und auf der anderen
Seite die Strenge der angeordneten Maßnahmen? Wie lässt sich das
gesellschaftlich-kulturell einordnen?
Hüter: Wenn ich das Verhalten psychohistorisch
betrachte, wage ich einmal die These, dass hier auch eine Abreaktion
stattgefunden hat.
Multipolar: Sie meinen, dass die Gesellschaft aufgrund der eigenen Ohnmacht den Druck an die unterste Ebene weitergegeben hat?
Hüter: Genau. Eine Art, dass man die Schwächsten am
meisten hat leiden lassen. Die Frage, die sich dazu nach Hannah Arendt
stellt, ist, wann Totalitarismus möglich ist. Wenn eine tiefe
Vereinzelung der Gesellschaft und eine tiefe unterbewusste Ausweg- und
Perspektivlosigkeit zu einem Morgen vorhanden ist, ist das der Moment,
in dem Totalitarismus erst greifen kann. In anderen Epochen war das
Ventil dann Krieg oder Revolution, also Aggression nach außen. In der
Coronazeit ging die Reaktion nach innen, vor allem auf die Kinder. 2020
ist ja schon das „Panik Papier“ an die Öffentlichkeit gelangt, wo herauskam, dass es Strategie der Politik war, die Situation zu dramatisieren und den Menschen, insbesondere den Kindern, Angst zu machen. Diese Zielscheibe auf das Kind war also vom ersten Moment an da.
Als ich damals mit meinem Sohn in Leipzig spazieren gegangen bin,
sind wir auch an einem abgesperrten Spielplatz vorbeigekommen. Für ihn
bedeutete das ein Zusammenbruch. Kinder erleben die Welt im Kleinen als
Ganzes. Die Eltern, die Familie, die Freunde, der Spielplatz: das ist
die Welt. Und wenn diese Welt abgesperrt wird und nicht mehr betreten
werden darf, ist das rein psychologisch Stress. Hinzu kam, dass ihnen
eingeredet wurde, sie könnten ihre unmittelbaren Nahestehenden
umbringen, wenn sie dorthin gehen. Wir haben in der Historie viele
irrwitzige Phasen gehabt. Dass aber Kinder Lebensgefahr für ihre engsten
Nahestehenden bedeuteten, hat es nie gegeben. Und dass bis heute keine
Aufarbeitung darüber stattgefunden hat, ist für mich ein kulturelles
Versagen.
Bis heute gibt es keine offizielle Entschuldigung bei der nachfolgenden Generation. Herr Lauterbach hatte vor einiger Zeit erklärt,
dass die Schulen nicht hätten geschlossen werden müssen – und es folgte
kein Aufschrei von Eltern und Pädagogen. Für die Zukunft ist dann die
Frage, wie unsere Kinder, wenn sie erwachsen sind, mit uns umgehen
werden, wenn sie in vollem Umfang realisieren, wie sie hier missbraucht
wurden.
Multipolar: Karl Lauterbach räumte
im vergangenen Jahr ein, dass Kinder „die meisten Opfer erbracht“
hätten und „viele Kinder auch heute noch unter psychischen Störungen
leiden“. Ihre Gesundheit sei „schlechter geworden.“ Neben psychischen Erkrankungen kam es zu Essstörungen, Entwicklungs- und Sprachdefiziten sowie Gewaltzunahmen. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte wies
bereits nach dem ersten Lockdown im Jahr 2020 auf das Problem der
sozialen Distanzierung für Kinder hin. Kinder hätten „oft keine
gesellschaftliche Priorität“ und würden „als Subjekte mit eigenen
Bedürfnissen schnell vergessen“. Haben Kinder in unserer Gesellschaft
tatsächlich keine Priorität?
Hüter: In Wahrheit haben sie doch überhaupt keine
mehr. Das fing bereits davor schon an, sonst hätte die Gesellschaft so
gar nicht agiert. Auch wenn sich jetzt Verbände und andere so äußern,
haben Sie zuvor doch letztendlich geschwiegen. Dazu gab es schon im Mai
2021 eine Expertenrunde
mit Stefan Hockertz, Christian Schubert, Harald Walach und mir. Von
Anfang an war klar, welche Folgen das für die Kinder haben würde. Im
Herbst 2020 hatte ich RT Deutsch ein Interview
gegeben, wo bereits alle Zahlen und Fakten vorhanden waren, dass Kinder
von diesem Virus nicht betroffen sind. 2020 sind 10 und bis Stand
Februar 2022 insgesamt 21 Kinder an oder mit Corona verstorben.
Diese Kinder waren jedoch zum Großteil schwerstens vorerkrankt. Welchen
Wert haben Kinder? Das wäre eine Frage, die sich die Gesellschaft
einmal stellen müsste.
Multipolar: Können Kinder, unabhängig von
Corona, in unserer Gesellschaft frei und kindgerecht, also im Sinne
ihrer Bedürfnisse aufwachsen?
Hüter: Nein. Wie gesagt geht diese Entwicklung schon
länger. Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte im Zeitraffer anschauen,
haben wir die Zeit, die Kinder außerhalb der realen Wirklichkeit
verbringen, also in Kitas und Schulen, im Namen von Arbeit und Konsum
massiv ausgedehnt. Das heißt, die breite Masse der Kinder ist immer
früher von der Familie und der Öffentlichkeit getrennt worden und
verbrachten ihre Zeit in Bildungsreservaten, wie ich sie nenne, immer
länger. Dann ist irgendwann auch noch Social Media dazugekommen, wodurch
sie die wenige freie Zeit in der nächsten „Matrix“ gefangen sind. Die
Konsequenz daraus ist, dass nicht nur Kinder und Jugendliche kaum mehr
real in Kontakt oder in Beziehung mit Erwachsenen und der öffentlichen
Gemeinschaft kommen, sondern umgekehrt auch nicht mehr die Erwachsenen
mit Kindern!
Schon in meinem 2018 erschienenen Buch „Kindheit 6.7“
hatte ich die Frage aufgeworfen, wie viele Menschen mit 0- bis
12-Jährigen im Alltag real überhaupt noch in Berührung kommen. Der Blick
auf das Kind ist seit längerem ein rein medialer, und damit ein
reduzierter. Vereinfacht gesagt haben wir den realen Kontakt zum Kind
weitgehend verloren. Also, wie reagiert das Kind? Was hat es für Ängste
und Sorgen? Mit all diesen Bedürfnissen von Kindern kommen wir als
breite Gesellschaft schon länger nicht mehr in Berührung. Ebenso wenig
mit ihrem Lachen und ihrer Freude. Außer man hat selbst ein Kind. Vor
einigen Jahren gab es eine Erhebung,
bei der herausgekommen ist, dass Eltern nur noch zwölf Minuten pro Tag
mit ihren Kindern sprechen. Das heißt, hier ist im Namen von Arbeit und
Konsum ein hoher Grad von Entfremdung passiert.
(...) Es gibt nur noch eine reduzierte Rechts-Links-Debatte, wo
übersehen wird, dass sich 40 bis 50 Millionen Menschen, die eigentliche
Mitte dieser Gesellschaft, auf keiner Seite mehr wiederfinden können. Es
gibt aber nicht nur die politische Mitte, sondern auch eine
gesellschaftliche. Und diese gesellschaftliche Mitte sind die Familien
und die Kinder. Sie sind das Bindeglied zwischen Vergangenheit und
Zukunft.
(...)
Als Kindheitsforscher bin ich davon
überzeugt, dass d
er Umgang mit Kindern in den Pandemiejahren ein Symptom
ist. Denn was sich damals ereignet hat, ist in Wahrheit
der Ausdruck
einer tiefen kulturellen Krise. Die Art und Weise, wie Kinder hier
kollektiv zum Objekt gemacht wurden, ist Ausdruck einer tiefer
liegenden, sich lange entwickelten Kulturkrise. (...) Hier ist aber eine
Verschiebung passiert, die sich über Jahrzehnte in den Coronajahren zum
ersten Mal manifestiert hat. Nämlich dass der eigentliche K
inderschutz
pervertiert wurde in einen Schutz vor Kindern!
Kinder wurden auf dieselbe Ebene gestellt wie Erwachsene. Damit wurde
der eigentliche westliche Fortschritt, die sogenannten Kinderrechte,
aufgehoben, da man sie den Erwachsenen gleichgestellt hat. Obendrein
wurde der Kinderschutz nicht nur praktisch aufgehoben, sondern es wurde
noch eine Stufe draufgesetzt, indem gesagt wurde, sie seien eine Gefahr
für Erwachsene. Das ist per se eine Pathologie und eine völlige
Entfremdung. Denn wie sollen Menschen, die gar nicht aktiv Täter werden
können, eine Gefahr sein?
Seitdem geht es weiter, zu sehen an den Themen Gender oder
Frühsexualisierung. Das ist die weitere Folge, dass der eigentliche
Kinderschutz aufgehoben wurde und dass Kinder permanent zum Objekt der
Erwachsenenwelt geworden sind. Wenn wir Kindern kollektiv Schaden
zufügen, fügen wir auch unserer Zukunft Schaden zu. Denn Kinder sind die
Zukunft einer Gesellschaft. Sie sind die nächste Generation, sie sind
das Morgen. Daher mein Satz in dem Film „Können 100 Ärzte lügen?“. Wenn
eine Kultur nicht mehr reflektiert, was sie tut, und Kinder radikal zum
Objekt macht, kann das nur Ausdruck einer Kultur sein, die in Wahrheit
unterbewusst keine Zukunft mehr will. Denn Zukunft heißt, eine Vision
für ein besseres Morgen zu haben. Wir machen aber seit Jahren nichts
anderes, als die Situation für Kinder zu verschlechtern.
(...)
Multipolar: Aktuell haben Sie einen Film mit dem Titel „Der große Mythos“ in Produktion, in dem Ihr Vortrag „Re-Evolution des Menschseins“ eine Rolle spielt. Was hat es damit auf sich?
Hüter: In dem Vortrag gehe ich der Frage nach, ob
die Einführung der Massenbeschulung tatsächlich das Ziel hatte, die
Kinder zu bilden. Dazu habe ich schon häufig, auch in dem Vortrag,
folgenden Satz gesagt: Der Schlüssel zur Macht ist der Zugriff auf das
Kind. In diesem jahrhundertelangen historischen Prozess wusste man an
einem Punkt aus Erfahrung, dass der Mensch durch Erziehung formbar ist.
Die erste Institution in Europa, die das verstanden hatte, war die
katholische Kirche. Diese besaß über Jahrhunderte das Bildungsmonopol.
Was wir heute Erziehung nennen, nämlich das Kind auf eine gewünschte
Weltanschauung hinzuziehen, gab es historisch davor nicht. Als dann die
katholische Kirche ihr Bildungsmonopol an die säkularisierten Staaten
verloren hatte, haben diese dieses Bildungssystem genauso beibehalten.
Dieses Bildungssystem, wie wir es heute in der ganzen westlichen Welt
immer noch haben, diente von Anfang an dazu, die herrschenden Ideologien
rasch von unten durchzusetzen.
(...)
Und zum Thema Schulpflicht: Deutschland ist das einzige Land Europas,
das die „Schulgebäudeanwesenheitspflicht“ nach wie vor besitzt. Dieses Gesetz
stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. 1938 wurde unter dem
Reichsbildungsminister Bernhard Rust die rigorose Schulpflicht im Sinne
von Schul- und Bildungspflicht kombiniert, die nur in einem staatlichen
Schulgebäude oder in einer staatlich anerkannten Privatschule erfüllt
werden konnte. Damit gab es auf jedes Kind einen ideologischen Zugriff.
1938 wurde in Deutschland diese Schulpflicht – respektive Schulzwang –
eingeführt und ist bis heute beibehalten worden.
Multipolar: Wie kann es der deutschen Gesellschaft gelingen, dass Kinder in Freiheit und im Sinne ihrer Bedürfnisse aufwachsen?
Hüter: Man müsste den Erwachsenen die Frage stellen,
wie sie in Zukunft eigentlich leben wollen. Traumatisierte Kinder, die
zu Opfern wurden, werden später zu 70 bis 80 Prozent in irgendeiner Form
auch selbst zu Tätern. (...) Man kann letztlich alle krankhaften
Erscheinungen einer Gesellschaft darauf zurückführen, wie diese mit
Kindern umgeht. Meiner Meinung nach bräuchte es nach Corona eine Art
„Marshallplan“ für die nachfolgende Generation. Ein wirklich massiver
Hilfsplan auf psychologischer, ökologischer und materieller Ebene. Alle
psychosozialen Befunde unserer Kinder und Jugendlichen verschlechtern
sich weiter kontinuierlich, obwohl die Maßnahmen aufgehoben wurden.
Daran kann man erkennen, wie verheerend sie waren und wie hier eine
ganze Generation kollektiv traumatisiert wurde – erstmals außerhalb von
Kriegszeiten.
Der deutsche Psychiater Hans-Joachim Maaz hat einmal gesagt: Jeder
Krieg ist letztendlich Ausdruck eines Gefühlstaus. Es gibt bei Kindern
und Jugendlichen in den letzten Jahren eine massive Zunahme von Gewaltkriminalität, Suchterkrankungen und Suizidversuchen.
Letztere haben sich während des 2. Lockdowns im Vergleich zu den
Vor-Corona-Jahren sogar fast verdreifacht! Das ist auch ein Abreagieren
des Erlebten der Coronajahre. Das ist jetzt das Ventil. Da ein
Abreagieren und ein Sich-äußern-Können in konstruktivem Sinn nicht
möglich ist, muss dieser Gefühlsstau irgendwann nach außen. Wenn wir
unter Kindern und Jugendlichen nicht noch mehr pure Aggression erleben
wollen, müssen die Coronajahre für diese Personengruppe dringend
aufgearbeitet werden.