In seinem Roman „Eumeswil“, erschienen 1977, gibt Ernst Jünger einen Rückblick auf eine Epoche der „Hochtechnik“ und des „Weltstaates“, in die wir teilweise bereits eingetreten sind, die aber hinsichtlich der im Roman geschilderten Technologien größtenteils noch vor uns liegt. Ein Rückblick also auf eine Zeit, die noch vor uns liegen könnte. Den Roman gerade in diesen Tagen (wieder) zu lesen mag Leser an vielen Stellen verblüffen, denn oft wirken die Schilderungen wie die Beschreibung von Vorgängen, denen wir derzeit tagtäglich in unserer Lebenswelt begegnen...
Jüngers Bücher hatten und haben insbesondere in den USA großen Einfluß auf Science Fiction-Schriftsteller und Berater großer Technologiekonzerne. Zu diesen Beratern und Autoren zählt kein geringerer als Bruce Sterling, der die Einleitung zur englischen Ausgabe von Jüngers „Gläserne Bienen“ verfasste.
In „Heliopolis“ (1949), „Gläserne Bienen“ (1957) und „Eumeswil“ (1977) denkt Jünger viele technische Entwicklungen weiter, die wir heute ansatzweise als „telematische Kyborge“ oder „KI-unterstützte virtuelle Umgebungen“ kennen. Faszinierenderweise öffnete sich Jünger im Vergleich zu anderen Autoren sehr früh der Frage, was NACH dem „Weltstaat“ und den „Zeiten der Hochtechnik“ kommen könnte, die für Jünger beide ursächlich miteinander verknüpft sind.
Doch was wird aus Dir und mir, der oder dem Einzelnen, in solchen Zeiten krisenhafter, meist sogar lebensbedrohlicher Umbrüche? Wie kann ich in einer solchen Zeit bestehen, obwohl ich nicht zum Kreis der Mächtigen zähle?
In Abgrenzung zum „Anarchisten“ (wie wir ihn beispielsweise bei Proudhon oder Bakunin finden) schildert Jünger die Figur des „Anarchen“, der bei aller Familienähnlichkeit doch eine deutlich andere Lebensphilosophie als der Anarchist verinnerlicht hat. Wenngleich Jüngers „Anarch“ dem Hauptwerk von Max Stirner viele Anregungen schuldet, ist das Konzept des Anarchen dennoch nicht identisch mit Stirners Ideen.
Hier also einige Passagen aus Jüngers „Eumeswil“, die deutlich machen, wie sich Jünger den Weg zu innerer Freiheit als Antwort auf krisenhafte geschichtlichen Momente vorstellt:
„Das Menschliche dagegen ist so allgemein und zugleich so verschlüsselt, daß sie es wie die Atemluft nicht wahrnehmen. So konnten sie in meine anarchische Grundstruktur nicht eindringen.
Das klingt kompliziert, ist aber einfach, denn anarchisch ist jeder; das eben ist das Normale an ihm. Allerdings wird es vom ersten Tag an durch Vater und Mutter, durch Staat und Gesellschaft beschränkt. Das sind Beschneidungen, Anzapfungen der Urkraft, denen keiner entgeht. Man muß sich damit abfinden. Doch das Anarchische bleibt auf dem Grunde als Geheimnis, meist selbst dem Träger unbewußt. Es kann als Lava aus ihm hervorbrechen, kann ihn vernichten, ihn befreien.
Hier ist zu differenzieren: die Liebe ist anarchisch, die Ehe nicht. Der Krieger ist anarchisch, der Soldat nicht. Der Totschlag ist anarchisch, der Mord nicht. Christus ist anarchisch, Paulus nicht. Da freilich das Anarchische das Normale, so ist es auch in Paulus vorhanden und bricht zuweilen mächtig aus ihm hervor. Das sind nicht Gegensätze, sondern Stufungen.“ (44)
„Als Erstem vielleicht gelang ihm die Maxime, daß nicht die jeweilige Form des Staates, sondern sein Wesen abzulehnen sei. Das ist die Einsicht, die den Anarchisten mangelt; sie läßt sich auf das Kapital ausdehnen. Der Staatskapitalismus ist noch gefährlicher als der private, weil er sich unmittelbar mit der politischen Macht verknüpft. Ihr zu entrinnen, kann nur dem Einzelnen gelingen, nicht dem Verband.“ (360)
„Ich hüte mich, wie gesagt, vor Sympathie, vor innerer Teilnahme. Als Anarch muß ich mich davon frei halten. Daß ich irgendwo Dienst leiste, ist unvermeidlich; ich verhalte mich dabei wie ein Condottiere, der seine Kräfte zeitlich, doch im Innersten unverbindlich zur Verfügung stellt.“ (80)
„Jedoch - wo alles möglich ist, kann man sich auch alles herausnehmen. Ich bin Anarch - nicht etwa, weil ich die Autorität verachte, sondern weil ich ihrer bedürftig bin. So auch kein Ungläubiger, sondern einer, der Glaubwürdiges verlangt.“ (110)
„Es setzt voraus, daß man sich selbst als Phänomen aus einiger Entfernung betrachten kann wie eine Figur im Schachspiel --- mit einem Wort, daß man die historische Einordnung wichtiger nimmt als die persönliche. [...] Das Besondere für mich als Anarchen ist, daß ich in einer Welt lebe, die ich >>letzthinnig<< nicht ernst nehme. Das erhöht meine Freiheit; ich diene als Zeitfreiwilliger.“ (126)
„Der Anarch hält sich nicht an Ideen, sondern an Tatsachen. Er leidet nicht für sie, sondern durch sie und meist aus eigenem Verschulden, wie beim Verkehrsunfall. Gewiß gibt es auch Unvorherzusehendes - Mißhandlungen. Ich glaube indessen, in der Selbstentfernung einen Grad erreicht zu haben, der mir das als Unfall zu betrachten erlaubt.“ (128)
„Der Liberale ist mit jedem Regime unzufrieden; der Anarch geht durch ihre Folge, möglichst ohne anzustoßen, wie durch eine Flucht von Sälen hindurch. Das ist das Rezept für jeden, dem mehr am Wesen der Welt als an der Erscheinung liegt - für den Philosophen, den Künstler, den Gläubigen.“ (140)
„Wenn die Gesellschaft den Anarchen in einen Konflikt verwickelt, an dem er innerlich nicht teilnimmt, fordert sie ihn zum Gegenspiel heraus. Er wird versuchen, den Hebel umzuwenden, mit dem sie ihn bewegt. Sie steht dann ihm zu Gebote, etwa als Bühne großartiger, für ihn erdachter Schauspiele. […] So wendet sich alles; die Fessel wird fesselnd, die Gefahr zum Abenteuer, zur spannenden Aufgabe.“ (148)
„Er kämpft allein, als Freier, dem es fernliegt, sich dafür auzuopfern, daß eine Unzulänglichkeit die andere ablöst und eine neue Herrschaft über die alte triumphiert.“ (154)
„Abschließend möchte ich wiederholen, daß ich mir nicht einbilde, als Anarch etwas Besonderes zu sein. Ich fühle mich nicht anders als jeder Beliebige. Vielleicht habe ich das Verhältnis ein wenig schärfer durchdacht und bin mir einer Freiheit bewußt, die >>im Grunde<< jedem zusteht, einer Freiheit, die mehr oder weniger sein Handeln bestimmt.“ (155)
„Er ist weder für noch gegen das Gesetz. Wenn er es auch nicht anerkennt, so sucht er es doch nach Art der Naturgesetze zu erkennen und richtet sich danach ein. […] der Anarch dagegen hat die Gesellschaft aus sich verdrängt.“ (164f.)
„Es ist ein Grundthema für den Anarchen: wie der Mensch, auf sich allein gestellt, den Übermächten, sei es des Staates, der Gesellschaft oder der Elemente, trotzt, indem er, ohne sich unterzuordnen, sich ihrer Spielregeln bedient.“ (273)
„In praxi ist die Selbstzucht die einzige Herrschaftsform, die ihm geziemt. Auch er kann jeden töten - das bleibt tief eingemauert in der Krypta des Bewußtseins - und vor allem sich selbst auslöschen, wenn er sich nicht genügt. […] Wer unterdrückt wird, kann sich wieder aufrichten, wenn es ihn nicht das Leben kostete. Der Gleichgemachte ist physisch und moralisch ruiniert.“ (211f.)
„Er weiß, daß er töten kann; unwichtig ist dagegen, ob er jemals die Tötung vollzieht. Vielleicht wird er sie nie in die Tat umsetzen. Zu betonen ist auch, daß er sie jedem anderen zubilligt. Jeder ist Mittelpunkt der Welt, und seine unbedingte Freiheit schafft den Abstand, in dem sich Achtung und Selbstachtung abgleichen.“ (292)
„Der Anarch denkt primitiver; er läßt sich sein Glück nicht abnehmen. >>Beglücke dich selbst<< ist sein Grundgesetz. Es ist sein Gegenstück zum >>Erkenne dich selbst<< am Tempel des Delphischen Apoll. Beides ergänzt sich; wir müssen unser Glück und unser Maß kennen.“ (217)
„Der Schulzwang ist im wesentlichen ein Mittel zur Beschneidung der Naturkraft und zur Ausbeutung. Dasselbe gilt von der Allgemeinen Wehrpflicht, die sich im gleichen Zusammenhang entwickelte. Der Anarch leht sie ab - ebenso wie den Impfzwang und Versicherungen jeder Art. Er schwört den Eid mit Vorbehalt. Er ist nicht Deserteur, sondern Refraktär. […] Wird ihm eine Waffe aufgezwungen, so wird er nicht zuverlässiger, sondern gefährlicher noch. Das Kollektiv kann nur nach einer Richtung schießen, der Anarch rundum.“ (227f.)
„Er hat sein Ethos, aber nicht Moral. Er erkennt das Recht, doch nicht das Gesetz an; er verachtet Vorschriften.“ (237)
„Den Anarchen kann das nicht kümmern; er behält seine Freiheit für sich, wie gut oder schlecht auch die Herrschaft sei.“ (310)
„Das Leben ist zu kurz und zu schön, um es für Ideen aufzuopfern, obwohl sich die Ansteckung nicht immer vermeiden läßt. Doch Hut ab vor den Märtyrern. […] Der Anarch erkennt sich als Mitte; das ist sein Naturrecht, das er auch jedem anderen zubilligt. Er erkennt kein Gesetz an - das heißt aber nicht, daß er es mißachet und nicht sorgfältig studiert. […] Wir berühren hier einen weiteren Unterschied zum Anarchisten: das Verhältnis zur Herrschaft, zur gesetzgebenden Macht. Der Anarchist ist ihr Todfeind, während der Anarch sie nicht anerkennt. Er sucht sie weder zu ergreifen, noch zu stürzen, noch zu ändern - ihre Stoßrichtung geht an ihm vorbei. Nur mit ihren Wirbeln muß er sich abfinden.
Der Anarch ist auch nicht Individualist. Er will sich weder als >>großer Mensch<< noch als Freigeist vorstellen. Sein Maß genügt ihm; die Freiheit ist nicht sein Ziel; sie ist sein Eigentum.“ (315)
„Im Handeln bestimmt das Gute den Anarchen nicht als Axiom in Rousseaus Sinne, sondern als Maxime der praktischen Vernunft.“ (340)
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