von Tankred Tabbert
Bereits im Jahr 2000 war das Leben des italienischen „Nationalheiligen“ Padre Pio Gegenstand eines Kinofilms und einer Fernsehreihe geworden. In diesem Jahr kam nun eine Neuverfilmung seiner frühen Jahre in die Kinos, die auf ein höchst kontroverses Echo stieß und die Diskussion um Padre Pio auch unter denjenigen neu befeuerte, die ihn vielleicht vorher noch gar nicht kannten. Zwar bin ich heute Zen-Buddhist, wurde aber katholisch getauft und aufgrund privater Bindungen zu Italien ist bis heute Padre Pio für mich ein „Familienmitglied“ geblieben. In jüngster Zeit bemühen sich auch in Deutschland Organisationen um die Verbreitung seiner Lehren - mit wachsendem Erfolg. Verglichen mit anderen spirituellen Lehrern und Meistern, die ich kenne, gehören die Texte Padre Pios für mich zur „Champions League“ unter den spirituellen Quellen - mit für mich immer wieder erstaunlichen Parallelen zum Buddhismus. Freilich bejahen seine Bücher auch einen sehr autoritären Katholizismus und so manche Passage in seinen Texten erinnert mich daran, warum ich aus der katholischen Kirche ausgetreten bin.
Padre Pio war und ist eine höchst umstrittene historische Persönlichkeit. In jüngster Zeit gab es immer wieder Historiker, die seine Stigmata und die von ihm vollbrachten Wunder in Zweifel zogen und deren Falschheit zu beweisen versuchten. Meines Wissens nach sind diese Quellen aber bislang nur auf Italienisch erschienen. Auch bemühten sich jüngere Veröffentlichungen darum, ihm eine Begeisterung für die faschistische Bewegung in Italien nachzuweisen, was diejenigen, die sich heute um sein Andenken bemühen, auf das Schärfste zurückweisen. Ach so, ja, und ein „Schürzenjäger“ soll er ohnehin gewesen sein …
Pio starb einige Monate vor meiner Geburt, leider sind wir keine Zeitgenossen mehr geworden. Ich kenne daher nur einige seiner hinterlassenen Texte und Berichte von Zeitzeugen, die allen Ernstes von seinen Wundern berichten und sie auch an sich selbst erfahren haben (wollen).
In meiner dreiteiligen Serie „Credo“ habe ich mich 2018 mit genau diesem Spannungsfeld auseinandergesetzt. Ich bewundere Padre Pio vor allem dafür, daß er (und daran mag er mich ein wenig an meinen „Lehrer“ Joseph Beuys erinnern) in einer Zeit, in der sich das naturwissenschaftliche Weltbild auch in den letzten ländlichen Winkeln durchsetzte und die Menschen sich in einer „gottlosen“ wie „geistlosen“, in jeglicher Hinsicht „durchrationalisierten“ Welt wiederfanden, den Mut und die Dreistigkeit hatte, in diese Maschinenwelt der Mathematiker und Physiker wieder etwas völlig Irrationales wie ein Wunder einzuführen. Er bestand auf das Wunder – entgegen dem Zeitgeist, entgegen aller Vernunft, entgegen aller Wissenschaft. Und entgegen seinen kirchlichen Vorgesetzten bis hin zum Papst. Er machte sich zu einem „freak“ und zog es durch … Ja, das mit den Stigmata kann eigentlich nicht sein - oder doch? Hier merkst Du auf einmal (und wirst direkt wie schonungslos damit konfrontiert), was das in Wahrheit bedeutet: Glauben.
Im Jahre 2010 hat es Sandro Veronesi in seinem Roman „XY“ übrigens vorbildlich geschafft, an einem anderen Beispiel die hier genannten Extreme bzw. Extremzustände auf packende Weise sinnlich erfahrbar zu machen und die ganze Widersprüchlichkeit, Faszination und Komplexität des Themas „Wunder“ in einer wissenschaftlichen Welt auszuleuchten.
So, wie Amadeu Inàcio de Almeida Prado nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben mochte, möchte ich nicht in einer Welt ohne Wunder leben … Gleichwohl sind Wunder für mich etwas zutiefst Zwiespältiges, wobei das Zwiespältige mich befremdet und manchmal auch ängstigt (vielleicht weil es nicht technisch/menschlich kontrollierbar ist?). Zwiespältig wie Padre Pio, der seine „Gaunereien“ bravourös nutzte, um als eine Art medialer „Pop-Star“ seine spirituelle Botschaft unter die Menschen zu bringen, die ihm ohne solche „Spektakel“ wohl nie zugehört hätten - wobei ich den Eindruck habe, daß gegen Ende seines Lebens sich eine gewisse Resignation in ihm breit machte, daß das „Spektakel“ bei vielen Menschen an die Stelle der Botschaft getreten war ... Freilich, die Gegenbeispiele von Menschen, die über die Worte Pios zu tiefer Religiösität gefunden haben und/oder spirituelle Heilung erfuhren, sind Legion. Auch ich gehöre dazu. Letztlich liegt in dieser komplexen, vielschichtigen Zwiespältigkeit für mich bis heute ein bleibendes Faszinosum, das hoffentlich das Interesse an einer ernsthaften Spiritualität, in welcher Form auch immer, wach hält.
Der Film aus dem Jahre 2023 beschäftigt sich spannenderweise genau mit der entscheidenden Phase dieser ganzen „Geschichte“:
Ein junger Mann erfährt seine Berufung zum Priester und wird tatsächlich Priester. Das allein würde schon eine psychologisch komplexe und interessante Handlung abgeben. Im Fall von Padre Pio kommt nun noch eine weitere „Passion“ dazu, die den Priester in einen Heiligen „verwandelt“. Für uns „Heutige“, die wir das alles nur im Nachhinein und aus zweiter und dritter Hand betrachten können, ist genau das der „Knackpunkt“: Aus einem Menschen „aus Fleisch und Blut“, der zwar an sich (sehr hart) arbeitet, letztlich aber so ist, wie er ist, wird die „Legende“, die „historische Persönlichkeit“, der „Heilige“ und wenn man an die „Fan-Artikel“ denkt, auch die bis heute umsatzstarke „Marke Pio“. Hier der reale Mensch, dort die „Legende“ und als Bindeglied die „Transition“, die Bemühungen des „echten“ Menschen im Rahmen von Berufung und Passion zu demjenigen zu werden, der heute im Herzen von Millionen Menschen fortlebt.
Die jüngste deutsch-italienische Verfilmung wurde in vielen Kommentaren enttäuscht als sehr schlecht beurteilt, weil sie zu wenig das Leben Pios darstelle und zu sehr auf das zeitgleiche Massaker an kommunistischen Revolutionären abstelle, das im Film mit der genannten Lebensphase Pios parallelisiert wird. Auch kämen die Botschaften Pios im Vergleich zur Darstellung der bis zum Tode ausgebeuteten Landbevölkerung zu kurz.
Mein Eindruck ist ein anderer. Zunächst sei hervorgehoben, dass es sich um eine Produktion auf sehr hohem „handwerklichen“ Niveau handelt, was die Wahl des Drehorts, Ausstattung, Kameraführung, Regie, Schnitt, Filmmusik und der fast ausnahmslos perfekten Besetzung bis in die kleinsten Nebenrollen hinein angeht. Auch der Hauptdarsteller ist seiner schwierigen Aufgabe vollkommen gewachsen. Es lohnt sich - ist aber meines Erachtens auch unbedingt notwendig - genauer hinzusehen. An passenden Stellen sind sehr wohl zentrale Aussagen aus den Texten Pios eingebaut - freilich höchst unaufdringlich, quasi „natürlich“, ohne daß dabei Langeweile aufkäme. Daß für „Normalsterbliche“ die innere Berufung Pios mitunter an ein Wahngeschehen erinnert, wird sehr gut sinnlich erfahrbar, ebenso die existenziellen Selbstzweifel des Protagonisten auf seinem Weg.
Das Bindeglied zwischen beiden Parallelhandlungen wird in einer „Vision“ (oder für andere Auffassungen in einer „Wahnvorstellung“) Pios deutlich, als Pio durch den Satan in Gestalt einer fast schon übermenschlich attraktiven nackten Schönheit „heimgesucht“ wird und diese ihm verkündet, dass die Massaker des ersten Weltkriegs nur der Auftakt gewesen seien. Die Schönheit deutet daraufhin das an, was wir heute unter dem zweiten Weltkrieg kennen. Es wird im Anschluß an diese Szene deutlich, daß es nun völlig verschiedene Antworten auf den absolut unhaltbaren Zustand der Welt gibt: bei „weltlichen“, materialistischen Menschen in einer Hinwendung zu gewalttätiger Revolution, quasi aus einer Art „Notwehr“ heraus, bei Pio in einer ebenso radikalen wie verzweifelten Hinwendung zu seinem „Herrn“, der ihn in der Schlußszene des Films erhört und beisteht.
Diese Schlußszene ist eine echte Überraschung, denn der Film löst hier auf sehr geniale Weise das Problem der Darstellung der „Transition“ vom Priester zum Heiligen und überlässt alles weitere der Phantasie (und dem möglichen Hintergrundwissen) der Zuschauer.
Der Film verweist hier auf eine grundlegende Frage: Welches ist der geeignetere Weg zu andauernder Veränderung der Welt hin zu einer menschlicheren Gesellschaft - gewalttätige Veränderung der Herrschaftsverhältnisse oder Bewusstseinsveränderung mittels „spirituellem Erwachen“? Den Konflikt zwischen materialistisch-wissenschaftlichem Weltbild und spirituell-religiösem Weltbild lässt der Film bis zum Schluß bestehen.
Spirituelles „Erwachen“, Religiösität, Stigmata, Wunder - alles Humbug? Oder ist der Gegensatz der zwei Weltbilder am Ende eine Illusion?
Den in der Überschrift angekündigten Exkurs möchte ich nutzen, um ein paar „ver-rückte“, also von sich aus unverbundene, an unterschiedlichen Orten versammelte Gedanken in diesem Zusammenhang ins Spiel zu bringen. Als bis heute „härtester“ Skeptiker und konsequentester Vertreter der materialistisch-rationalen Denkrichtung kann nach wie vor Sextus Empiricus gelten. Er versuchte auf umfassende Weise die Grenzen des Bezweifelbaren auszuloten. Was sich also wirklich, wirklich nicht mehr bezweifeln lässt, sollte gewiß sein. Was letztlich für ihn allen Zweifeln und aller Bezweifelbarkeit stand hielt, war das „unwillkürliche Erlebnis“. Diese Form sinnlichen Erlebens finden wir nun aber ebenso in der spirituellen Welt, speziell in dem, was wir „spirituelles Erwachen“ nennen.
Was wäre der „Letztbeweis“ eines materialistischen Weltbildes, das damit (echt oder vermeintlich), sogar dem Tod ein Schnippchen schlagen könnte, also ein bislang religiöses Heilsversprechen materialistisch-diesseitig einlösen könnte?
Es wäre das „Hochladen“ des menschlichen Geistes in einen Rechner bei gleichzeitigem schrittweisen Abbau des nun überflüssigen menschlichen Körpers. Ein solches - bislang fiktives - Vorgehen finden wir in den Schriften von Hans Moravec beschrieben, weshalb das ganze Konzept auch kurzerhand „Moravec-scher Geist“ genannt wird. Solch ein „Moravec-scher“ Geist gilt in Fachkreisen als „Letztbeweis“ einer sogenannten „starken KI“, also einer künstlichen Intelligenz, die dem Menschen (mindestens) ebenbürtig ist.
Bereits vor Moravec stellten sich Schriftsteller und Philosophen wie Oswald Wiener und Hilary Putnam die Frage, woher wir eigentlich mit Gewißheit wissen können, daß wir in „Wahrheit“ keine Computer-Simulation sind, die sich ihr eigenes Leben bloß einbildet bzw. simuliert bekommt, daß wir also z.B. keine „Gehirne im Tank“ sind. Wenn ich Putnams Ausführungen richtig verstanden habe (und ich bitte eindringlich um Aufklärung, falls ich mich täusche!), dann läuft seine Argumentation, warum wir keine „Gehirne im Tank“ sein können, auf das gleiche Kriterium wie das Letztgewißheitskriterium bei Sextus Empiricus hinaus. Stellen wir uns das jetzt einmal im Zusammenhang mit der Vision von Hans Moravec vor:
Während ich meinen Geist abgetastet, analysiert, technisch im Rechner verdoppelt und als Wahrnehmung wieder simuliert bekomme, wird Schicht für Schicht meines Gehirns abgetragen, bis nichts mehr da ist und sich mein „Geist“ vollständig „im“ Rechner befindet.
Vermutung: Sollte mein Geist vorher schon spirituelle Elemente aufweisen, würde der Rechner auch diese „übernehmen“ und mir diese „spiegeln“, solange ich noch wahrnehmungsfähig bin. Doch wie sollte das für den Prozess des „spirituellen Erwachens“ möglich sein, wenn dieses noch nicht vor dem „Hochladen“ erfolgt ist?
Daß nach dem „Hochladen“ neue, kreative/schöpferische Leistungen sowie die Erschaffung neuer „Gehirnstrukturen“ durch den „hochgeladenen Geist“ eigenständig möglich sind (und nicht nur Varianten des vor dem Hochladen Bestehenden, die uns als außenstehenden Beobachtern fälschlich als eigenständige, neue Strukturen erscheinen mögen), ist eine zentrale Behauptung der Vertreter der „starken KI“, die derzeit noch unbewiesen ist.
Sollte ein „Moravec-scher Geist“ oder ein „Gehirn im Tank“ nach dem „Hochladen“ zu einem „spirituellen Erwachen“ fähig sein, wäre dies dann nicht der „Letztbeweis“, daß eine „starke KI“ möglich ist? Und wie würde sich diese Frage entscheiden lassen können?
Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist die Figur des „Dixie Flatline“ aus den Romanen William Gibsons. In seiner „Neuromancer“-Trilogie versuchte Gibson sich genau diese Fragen praktisch-„lebensweltlich“ vorzustellen und diesen KI-Ansatz zu Ende zu denken. Der Protagonist der Romane müht sich ebenfalls mit dem Problem ab, wie sich die eben aufgeworfenen Fragen verlässlich beantworten lassen.
Berücksichtige ich im Versuch einer Art „Zusammenschau“ die Argumente und Erfahrungen von Hilary Putnam, Sextus Empiricus, Hans Moravec, Oswald Wiener, Eckhart Tolle, Padre Pio und William Gibson, drängt sich mir die Vermutung auf, daß der Moment des spirituellen Erwachens der unhintergehbare „Letztbeweis“ dafür sein dürfte, daß wir eben keine „Gehirne im Tank“ sind.
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