Monday, January 23, 2023

"ihr seid wir" - Zwei Gastbeiträge der Autorin Constanze Oberlercher

Ihre Publikation in der Wochenzeitung "Der Aufstand" (Reichweite bis zu 780 000 Personen) sorgte jüngst für viel Aufsehen und die Academia Tancredi freut sich sehr, zwei Texte der Hamburger Autorin Constanze Oberlercher präsentieren zu dürfen, die einen kleinen Einblick in ihr künstlerisches Schaffen seit über zwei Jahrzehnten vermitteln:


Hamburg    19.12.2021  
                     4. Advent                                                         
 
Wir sind die, die aus den Wirren flohen. 
Wir sind die, die keine Freunde hatten. 
Wir sind die, die an Gesetze glaubten. 
Wir sind die –
 
Wir sind die, die immer widersprachen.
Wir sind Kinder vaterloser Väter.
Wir sind die, die man schon stets belogen. 
Wir sind die –
 
Wir sind die, die für den Frieden liefen. 
Wir sind die, die schon ihr Volk verrieten. 
Wir sind die, die nie gesund gewesen. 
Wir sind die –
 
Deren Kinder Heiler nicht nur heilten. 
Deren Glauben früh man schon gespalten. 
Die man immer für verrückt gehalten. 
Wir sind die –
 
Wir sind die, die noch bis letzten Sommer   
an den Kaiser als an Götter glaubten,
die sich keinen Fehltritt je erlaubten.
Wir sind die –
 
Wir sind die, die euch bewahren wollen 
und doch eurem Glauben Achtung zollen, 
wir sind die, die jetzund um euch bangen – 
wir sind ihr.
 
Ihr seid die, die lange um uns bangten, 
fröhlichen Gehorsam abverlangten; 
schließt euch an, ihr Brüder, Schwestern, Kinder –
ihr seid wir.

 

***

 

[ein trüber Mittag] 29. März 2001

Und wieder ein Jahr in dem das Rad sich weiterdreht

unter unserem Schnaufen,

die wir anpreisen

die Funktionstüchtigkeit der Puppenhauskühlschränke

und die ungiftige Aufbereitung alter Vermessenheiten.

Und Leiber liegen ungezählt, erschlagen

von spielerischer Keule, ertrunken

im Wirbel virtueller Wogen.

Neben mir

geliebtes Schweigen keiner Einsamkeit

während ich nicht teilhabe an der Verantwortung

der an umstrittenen Zahlen abgleitenden Schraubenzieher

sondern wehleidig schmarotze, aussauge

versauerten Saft aus einem Trümmeracker

und mich geschwätzig wundere über die Befestigung der Wege,

deren Unrecht zu verbergen

keiner für nötig hält.

 

 

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