Wednesday, July 31, 2024

„Eine Anleitung für das 22. Jahrhundert“ - Ernst Jünger „Die Schere“



In Interviews im Vorfeld zu seinem 100. Geburtstag, in denen er seine Interviewpartner regelmäßig an geistiger Frische übertraf, nannte Jünger sein Buch „Die Schere“, das er mit 95 Jahren veröffentlichte, kurzerhand „eine Anleitung für das 22. Jahrhundert“ - und erntete dafür überraschtes Staunen, Verwunderung oder Kopfschütteln.

Manche hielten ihn aufgrund dieser Äußerung für einen restlos durchgeknallten Greis, der ja schon immer ein suspekter Autor war, dessen Werk auf den zweiten Blick ärgerlicherweise in keine der Schubladen passte, in die überregionale Medien es stopfen wollten... Und der - au weia - sich selbst auch noch als „Anarch“ bezeichnete (nein, nicht Anarchist!)...

Wer nun im Jahre des Herrn 2024 Jüngers historische, gesellschaftliche und metaphysische Analysen sowie seine Vorhersagen mit den Meldungen der Tagespresse abgleicht, dem wird es aufgrund der Parallelen und dem Wiedererkennen von Situationen, die Jünger damals schon beschrieb, wahrscheinlich heiß und kalt über den Rücken laufen.

Auch Jünger war nicht unfehlbar und gelegentlich finden sich in der „Schere“ auch Banalitäten, die mich als Leser enttäuschten. Gleichwohl macht Jünger in seinem Buch Deutungsangebote, die das Geschehen unserer Tage in verschiedene Zusammenhänge und Entwicklungslinien stellen, die für mich einen hohen Erklärungswert besitzen. Und wer wissenschaftlich denkt, kann aus Jüngers Analysen sogar Prognosen ableiten, die sich - wie sich zwischenzeitlich herausstellte - bewahrheiteten und möglicherweise auch in Zukunft bewahrheiten werden.

Eine Anleitung für die Zukunft? Ein atemberaubender Anspruch, aber hinsichtlich „Der Schere“ aus Sicht des Jahres 2024 als gesamtes Buch gesehen tatsächlich im Bereich des Möglichen, bei vielen Themen sogar definitiv im Bereich des Wahrscheinlichen.

Seit der Lektüre der „Schere“ heißt Ernst Jünger bei mir nur noch „Scheren-Ernst“, denn viele Themen, die Jünger bereits in „Über die Linie“, „Heliopolis“ oder „Eumeswil“ beschäftigten, werden hier erneut aufgegriffen und - wo inhaltlich möglich - zu einem Abschluss gebracht.

Was die Lektüre des Buches sowohl schwierig als auch besonders lohnend macht, ist die enorme Bandbreite der Themen.

Jüngers Bücher „Heliopolis“, „Eumeswil“, vor allem aber der Science Fiction-Band „Gläserne Bienen“, der in den USA als „The Glass Bees“ erschien, sind aufgrund ihrer zukunftsträchtigen Gedankenexperimente zu den Themen „Technik der Zukunft“, "Mensch und Technik" sowie „Technik und Gesellschaft“ bei den Entscheidern der führenden Technik-Unternehmen sowie ihren Beratern sowohl „Kult“ als auch „Pflichtlektüre“. Dies ist in Deutschland sehr wenig bekannt - der Prophet gilt wenig bis nichts im eigenen Land...

Auch in der „Schere“ spielt das Thema Technik eine zentrale Rolle. Und zwar nicht nur, wie es mit der Technik weitergehen könnte, sondern es geht immer wieder auch darum, was Technik in Zukunft mit den hochtechnisierten Gesellschaften und deren Bevölkerungen macht. Die Analyse betrifft dabei sowohl die gesamtgesellschaftliche Ebene als auch die häufig noch spannendere Frage, was die Hochtechnologie mit dem einzelnen Menschen macht und voraussichtlich machen wird.

Aber das spannende und inspirierende an der Lektüre der Bücher Ernst Jüngers ist für mich die Tatsache, daß Jünger immer wieder „out of the box“ denkt - wofür seine Texte geliebt und verehrt, aber auch viel und heftig kritisiert wurden. Jüngers Werk riskiert Perspektiven, die unser Alltagsdenken bei weitem übersteigen, sowohl in historischer, gesellschaftlicher, psychologischer als auch spirituell/metaphysischer Hinsicht.

Man muss Jüngers Ansichten nicht teilen, um anzuerkennen, daß es wenige Menschen gab, die über mehr als 100 Jahre Lebenserfahrung mit Weltkriegen, radikalen technologischen Veränderungen, wechselnden politischen Staatsformen, diversen Wirtschaftskrisen, fast allen Drogen, den wichtigsten Religionen und Menschen aus aller Welt gesammelt und darüber so intensiv nachgedacht haben wie „Scheren-Ernst“. Von diesen Erfahrungen und Einsichten lässt sich als Leser enorm profitieren, unabhängig davon, welche eigenen Schlüsse man daraus zieht.

Als 95-Jähriger scheute er sich dabei nicht, auch die „großen“ und die „letzten“ Fragen mit schonungsloser Neugier und Offenheit anzugehen. Fragen, die für die Gesellschaft unserer Zeit weitestgehend Tabu sind...

Daher möchte ich zum Schluß die höchst schlichte Prognose wagen, daß die Lektüre der „Schere“ niemanden, der das Buch liest, unverändert lässt.


 

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