"systemrelevant"
"alternativlos"
"nebenwirkungsfrei"
"Wir schaffen das!"
Dieser Hinweis erfolgt sehr spät, denn ich habe bedauerlicherweise ein paar Jahre benötigt, um den folgenden Satz von Padre Pio mehr als nur oberflächlich und in mehr als nur einem rein religiösen Zusammenhang gerade in Bezug auf Nächstenliebe und radikaler Verantwortung für seine Mitmenschen zu verstehen.
Padre Pio sagte:
"Mich selbst kann ich vergessen, aber nicht meine geistigen Kinder, im Gegenteil; ich versichere euch, wenn mich der Herr einst rufen wird, werde ich zu Ihm sagen: << Herr, ich bleibe hier an der Pforte des Paradieses, und ich werde erst dann eintreten, wenn ich den letzten meiner Söhne habe eintreten sehen >>."
In Interviews im Vorfeld zu seinem 100. Geburtstag, in denen er seine Interviewpartner regelmäßig an geistiger Frische übertraf, nannte Jünger sein Buch „Die Schere“, das er mit 95 Jahren veröffentlichte, kurzerhand „eine Anleitung für das 22. Jahrhundert“ - und erntete dafür überraschtes Staunen, Verwunderung oder Kopfschütteln.
Manche hielten ihn aufgrund dieser Äußerung für einen restlos durchgeknallten Greis, der ja schon immer ein suspekter Autor war, dessen Werk auf den zweiten Blick ärgerlicherweise in keine der Schubladen passte, in die überregionale Medien es stopfen wollten... Und der - au weia - sich selbst auch noch als „Anarch“ bezeichnete (nein, nicht Anarchist!)...
Wer nun im Jahre des Herrn 2024 Jüngers historische, gesellschaftliche und metaphysische Analysen sowie seine Vorhersagen mit den Meldungen der Tagespresse abgleicht, dem wird es aufgrund der Parallelen und dem Wiedererkennen von Situationen, die Jünger damals schon beschrieb, wahrscheinlich heiß und kalt über den Rücken laufen.
Auch Jünger war nicht unfehlbar und gelegentlich finden sich in der „Schere“ auch Banalitäten, die mich als Leser enttäuschten. Gleichwohl macht Jünger in seinem Buch Deutungsangebote, die das Geschehen unserer Tage in verschiedene Zusammenhänge und Entwicklungslinien stellen, die für mich einen hohen Erklärungswert besitzen. Und wer wissenschaftlich denkt, kann aus Jüngers Analysen sogar Prognosen ableiten, die sich - wie sich zwischenzeitlich herausstellte - bewahrheiteten und möglicherweise auch in Zukunft bewahrheiten werden.
Eine Anleitung für die Zukunft? Ein atemberaubender Anspruch, aber hinsichtlich „Der Schere“ aus Sicht des Jahres 2024 als gesamtes Buch gesehen tatsächlich im Bereich des Möglichen, bei vielen Themen sogar definitiv im Bereich des Wahrscheinlichen.
Seit der Lektüre der „Schere“ heißt Ernst Jünger bei mir nur noch „Scheren-Ernst“, denn viele Themen, die Jünger bereits in „Über die Linie“, „Heliopolis“ oder „Eumeswil“ beschäftigten, werden hier erneut aufgegriffen und - wo inhaltlich möglich - zu einem Abschluss gebracht.
Was die Lektüre des Buches sowohl schwierig als auch besonders lohnend macht, ist die enorme Bandbreite der Themen.
Jüngers Bücher „Heliopolis“, „Eumeswil“, vor allem aber der Science Fiction-Band „Gläserne Bienen“, der in den USA als „The Glass Bees“ erschien, sind aufgrund ihrer zukunftsträchtigen Gedankenexperimente zu den Themen „Technik der Zukunft“, "Mensch und Technik" sowie „Technik und Gesellschaft“ bei den Entscheidern der führenden Technik-Unternehmen sowie ihren Beratern sowohl „Kult“ als auch „Pflichtlektüre“. Dies ist in Deutschland sehr wenig bekannt - der Prophet gilt wenig bis nichts im eigenen Land...
Auch in der „Schere“ spielt das Thema Technik eine zentrale Rolle. Und zwar nicht nur, wie es mit der Technik weitergehen könnte, sondern es geht immer wieder auch darum, was Technik in Zukunft mit den hochtechnisierten Gesellschaften und deren Bevölkerungen macht. Die Analyse betrifft dabei sowohl die gesamtgesellschaftliche Ebene als auch die häufig noch spannendere Frage, was die Hochtechnologie mit dem einzelnen Menschen macht und voraussichtlich machen wird.
Aber das spannende und inspirierende an der Lektüre der Bücher Ernst Jüngers ist für mich die Tatsache, daß Jünger immer wieder „out of the box“ denkt - wofür seine Texte geliebt und verehrt, aber auch viel und heftig kritisiert wurden. Jüngers Werk riskiert Perspektiven, die unser Alltagsdenken bei weitem übersteigen, sowohl in historischer, gesellschaftlicher, psychologischer als auch spirituell/metaphysischer Hinsicht.
Man muss Jüngers Ansichten nicht teilen, um anzuerkennen, daß es wenige Menschen gab, die über mehr als 100 Jahre Lebenserfahrung mit Weltkriegen, radikalen technologischen Veränderungen, wechselnden politischen Staatsformen, diversen Wirtschaftskrisen, fast allen Drogen, den wichtigsten Religionen und Menschen aus aller Welt gesammelt und darüber so intensiv nachgedacht haben wie „Scheren-Ernst“. Von diesen Erfahrungen und Einsichten lässt sich als Leser enorm profitieren, unabhängig davon, welche eigenen Schlüsse man daraus zieht.
Als 95-Jähriger scheute er sich dabei nicht, auch die „großen“ und die „letzten“ Fragen mit schonungsloser Neugier und Offenheit anzugehen. Fragen, die für die Gesellschaft unserer Zeit weitestgehend Tabu sind...
Daher möchte ich zum Schluß die höchst schlichte Prognose wagen, daß die Lektüre der „Schere“ niemanden, der das Buch liest, unverändert lässt.
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In seinem Roman „Eumeswil“, erschienen 1977, gibt Ernst Jünger einen Rückblick auf eine Epoche der „Hochtechnik“ und des „Weltstaates“, in die wir teilweise bereits eingetreten sind, die aber hinsichtlich der im Roman geschilderten Technologien größtenteils noch vor uns liegt. Ein Rückblick also auf eine Zeit, die noch vor uns liegen könnte. Den Roman gerade in diesen Tagen (wieder) zu lesen mag Leser an vielen Stellen verblüffen, denn oft wirken die Schilderungen wie die Beschreibung von Vorgängen, denen wir derzeit tagtäglich in unserer Lebenswelt begegnen...
Jüngers Bücher hatten und haben insbesondere in den USA großen Einfluß auf Science Fiction-Schriftsteller und Berater großer Technologiekonzerne. Zu diesen Beratern und Autoren zählt kein geringerer als Bruce Sterling, der die Einleitung zur englischen Ausgabe von Jüngers „Gläserne Bienen“ verfasste.
In „Heliopolis“ (1949), „Gläserne Bienen“ (1957) und „Eumeswil“ (1977) denkt Jünger viele technische Entwicklungen weiter, die wir heute ansatzweise als „telematische Kyborge“ oder „KI-unterstützte virtuelle Umgebungen“ kennen. Faszinierenderweise öffnete sich Jünger im Vergleich zu anderen Autoren sehr früh der Frage, was NACH dem „Weltstaat“ und den „Zeiten der Hochtechnik“ kommen könnte, die für Jünger beide ursächlich miteinander verknüpft sind.
Doch was wird aus Dir und mir, der oder dem Einzelnen, in solchen Zeiten krisenhafter, meist sogar lebensbedrohlicher Umbrüche? Wie kann ich in einer solchen Zeit bestehen, obwohl ich nicht zum Kreis der Mächtigen zähle?
In Abgrenzung zum „Anarchisten“ (wie wir ihn beispielsweise bei Proudhon oder Bakunin finden) schildert Jünger die Figur des „Anarchen“, der bei aller Familienähnlichkeit doch eine deutlich andere Lebensphilosophie als der Anarchist verinnerlicht hat. Wenngleich Jüngers „Anarch“ dem Hauptwerk von Max Stirner viele Anregungen schuldet, ist das Konzept des Anarchen dennoch nicht identisch mit Stirners Ideen.
Hier also einige Passagen aus Jüngers „Eumeswil“, die deutlich machen, wie sich Jünger den Weg zu innerer Freiheit als Antwort auf krisenhafte geschichtlichen Momente vorstellt:
„Das Menschliche dagegen ist so allgemein und zugleich so verschlüsselt, daß sie es wie die Atemluft nicht wahrnehmen. So konnten sie in meine anarchische Grundstruktur nicht eindringen.
Das klingt kompliziert, ist aber einfach, denn anarchisch ist jeder; das eben ist das Normale an ihm. Allerdings wird es vom ersten Tag an durch Vater und Mutter, durch Staat und Gesellschaft beschränkt. Das sind Beschneidungen, Anzapfungen der Urkraft, denen keiner entgeht. Man muß sich damit abfinden. Doch das Anarchische bleibt auf dem Grunde als Geheimnis, meist selbst dem Träger unbewußt. Es kann als Lava aus ihm hervorbrechen, kann ihn vernichten, ihn befreien.
Hier ist zu differenzieren: die Liebe ist anarchisch, die Ehe nicht. Der Krieger ist anarchisch, der Soldat nicht. Der Totschlag ist anarchisch, der Mord nicht. Christus ist anarchisch, Paulus nicht. Da freilich das Anarchische das Normale, so ist es auch in Paulus vorhanden und bricht zuweilen mächtig aus ihm hervor. Das sind nicht Gegensätze, sondern Stufungen.“ (44)
„Als Erstem vielleicht gelang ihm die Maxime, daß nicht die jeweilige Form des Staates, sondern sein Wesen abzulehnen sei. Das ist die Einsicht, die den Anarchisten mangelt; sie läßt sich auf das Kapital ausdehnen. Der Staatskapitalismus ist noch gefährlicher als der private, weil er sich unmittelbar mit der politischen Macht verknüpft. Ihr zu entrinnen, kann nur dem Einzelnen gelingen, nicht dem Verband.“ (360)
„Ich hüte mich, wie gesagt, vor Sympathie, vor innerer Teilnahme. Als Anarch muß ich mich davon frei halten. Daß ich irgendwo Dienst leiste, ist unvermeidlich; ich verhalte mich dabei wie ein Condottiere, der seine Kräfte zeitlich, doch im Innersten unverbindlich zur Verfügung stellt.“ (80)
„Jedoch - wo alles möglich ist, kann man sich auch alles herausnehmen. Ich bin Anarch - nicht etwa, weil ich die Autorität verachte, sondern weil ich ihrer bedürftig bin. So auch kein Ungläubiger, sondern einer, der Glaubwürdiges verlangt.“ (110)
„Es setzt voraus, daß man sich selbst als Phänomen aus einiger Entfernung betrachten kann wie eine Figur im Schachspiel --- mit einem Wort, daß man die historische Einordnung wichtiger nimmt als die persönliche. [...] Das Besondere für mich als Anarchen ist, daß ich in einer Welt lebe, die ich >>letzthinnig<< nicht ernst nehme. Das erhöht meine Freiheit; ich diene als Zeitfreiwilliger.“ (126)
„Der Anarch hält sich nicht an Ideen, sondern an Tatsachen. Er leidet nicht für sie, sondern durch sie und meist aus eigenem Verschulden, wie beim Verkehrsunfall. Gewiß gibt es auch Unvorherzusehendes - Mißhandlungen. Ich glaube indessen, in der Selbstentfernung einen Grad erreicht zu haben, der mir das als Unfall zu betrachten erlaubt.“ (128)
„Der Liberale ist mit jedem Regime unzufrieden; der Anarch geht durch ihre Folge, möglichst ohne anzustoßen, wie durch eine Flucht von Sälen hindurch. Das ist das Rezept für jeden, dem mehr am Wesen der Welt als an der Erscheinung liegt - für den Philosophen, den Künstler, den Gläubigen.“ (140)
„Wenn die Gesellschaft den Anarchen in einen Konflikt verwickelt, an dem er innerlich nicht teilnimmt, fordert sie ihn zum Gegenspiel heraus. Er wird versuchen, den Hebel umzuwenden, mit dem sie ihn bewegt. Sie steht dann ihm zu Gebote, etwa als Bühne großartiger, für ihn erdachter Schauspiele. […] So wendet sich alles; die Fessel wird fesselnd, die Gefahr zum Abenteuer, zur spannenden Aufgabe.“ (148)
„Er kämpft allein, als Freier, dem es fernliegt, sich dafür auzuopfern, daß eine Unzulänglichkeit die andere ablöst und eine neue Herrschaft über die alte triumphiert.“ (154)
„Abschließend möchte ich wiederholen, daß ich mir nicht einbilde, als Anarch etwas Besonderes zu sein. Ich fühle mich nicht anders als jeder Beliebige. Vielleicht habe ich das Verhältnis ein wenig schärfer durchdacht und bin mir einer Freiheit bewußt, die >>im Grunde<< jedem zusteht, einer Freiheit, die mehr oder weniger sein Handeln bestimmt.“ (155)
„Er ist weder für noch gegen das Gesetz. Wenn er es auch nicht anerkennt, so sucht er es doch nach Art der Naturgesetze zu erkennen und richtet sich danach ein. […] der Anarch dagegen hat die Gesellschaft aus sich verdrängt.“ (164f.)
„Es ist ein Grundthema für den Anarchen: wie der Mensch, auf sich allein gestellt, den Übermächten, sei es des Staates, der Gesellschaft oder der Elemente, trotzt, indem er, ohne sich unterzuordnen, sich ihrer Spielregeln bedient.“ (273)
„In praxi ist die Selbstzucht die einzige Herrschaftsform, die ihm geziemt. Auch er kann jeden töten - das bleibt tief eingemauert in der Krypta des Bewußtseins - und vor allem sich selbst auslöschen, wenn er sich nicht genügt. […] Wer unterdrückt wird, kann sich wieder aufrichten, wenn es ihn nicht das Leben kostete. Der Gleichgemachte ist physisch und moralisch ruiniert.“ (211f.)
„Er weiß, daß er töten kann; unwichtig ist dagegen, ob er jemals die Tötung vollzieht. Vielleicht wird er sie nie in die Tat umsetzen. Zu betonen ist auch, daß er sie jedem anderen zubilligt. Jeder ist Mittelpunkt der Welt, und seine unbedingte Freiheit schafft den Abstand, in dem sich Achtung und Selbstachtung abgleichen.“ (292)
„Der Anarch denkt primitiver; er läßt sich sein Glück nicht abnehmen. >>Beglücke dich selbst<< ist sein Grundgesetz. Es ist sein Gegenstück zum >>Erkenne dich selbst<< am Tempel des Delphischen Apoll. Beides ergänzt sich; wir müssen unser Glück und unser Maß kennen.“ (217)
„Der Schulzwang ist im wesentlichen ein Mittel zur Beschneidung der Naturkraft und zur Ausbeutung. Dasselbe gilt von der Allgemeinen Wehrpflicht, die sich im gleichen Zusammenhang entwickelte. Der Anarch leht sie ab - ebenso wie den Impfzwang und Versicherungen jeder Art. Er schwört den Eid mit Vorbehalt. Er ist nicht Deserteur, sondern Refraktär. […] Wird ihm eine Waffe aufgezwungen, so wird er nicht zuverlässiger, sondern gefährlicher noch. Das Kollektiv kann nur nach einer Richtung schießen, der Anarch rundum.“ (227f.)
„Er hat sein Ethos, aber nicht Moral. Er erkennt das Recht, doch nicht das Gesetz an; er verachtet Vorschriften.“ (237)
„Den Anarchen kann das nicht kümmern; er behält seine Freiheit für sich, wie gut oder schlecht auch die Herrschaft sei.“ (310)
„Das Leben ist zu kurz und zu schön, um es für Ideen aufzuopfern, obwohl sich die Ansteckung nicht immer vermeiden läßt. Doch Hut ab vor den Märtyrern. […] Der Anarch erkennt sich als Mitte; das ist sein Naturrecht, das er auch jedem anderen zubilligt. Er erkennt kein Gesetz an - das heißt aber nicht, daß er es mißachet und nicht sorgfältig studiert. […] Wir berühren hier einen weiteren Unterschied zum Anarchisten: das Verhältnis zur Herrschaft, zur gesetzgebenden Macht. Der Anarchist ist ihr Todfeind, während der Anarch sie nicht anerkennt. Er sucht sie weder zu ergreifen, noch zu stürzen, noch zu ändern - ihre Stoßrichtung geht an ihm vorbei. Nur mit ihren Wirbeln muß er sich abfinden.
Der Anarch ist auch nicht Individualist. Er will sich weder als >>großer Mensch<< noch als Freigeist vorstellen. Sein Maß genügt ihm; die Freiheit ist nicht sein Ziel; sie ist sein Eigentum.“ (315)
„Im Handeln bestimmt das Gute den Anarchen nicht als Axiom in Rousseaus Sinne, sondern als Maxime der praktischen Vernunft.“ (340)
Weil die Academia Tancredi bereits mehrfach auf die jahrelangen Verbrechen unserer Gesellschaft an unseren Kindern hingewiesen hat, hier ein Auszug aus einem aktuellen Interview des Kindheitsforschers Michael Hüter mit dem Magazin "Multipolar". Die Hervorhebungen stammen von der Academia Tancredi.
Hier geht es zum vollständigen Interview: https://multipolar-magazin.de/artikel/ein-kulturelles-versagen
Hier geht es zur Internetseite von Michael Hüter und seinem aktuellen Buch "Kindheit 6.7", das die Academia Tancredi sehr zur Lektüre empfiehlt und das inzwischen auch auf Englisch erhältlich ist: https://www.michael-hueter.org/kindheit_6_7
Multipolar: Aufgrund der freigeklagten RKI-Protokolle wird im deutschen Bundestag derzeit über eine Aufarbeitung der Corona-Politik diskutiert. Einige fordern einen Untersuchungsausschuss oder eine Enquete-Kommission, andere äußern sich verhaltener und wollen keine „Sündenböcke“ suchen. Kinder waren von der Krankheit kaum betroffen, jedoch gleichzeitig die Gruppe, bei der Maßnahmen am stärksten umgesetzt wurden. Der Deutsche Caritasverband hat jüngst betont, dass Kinder in der Zeit „unverhältnismäßig stark gelitten“ hätten. Wie passt das zusammen: Auf der einen Seite das geringe Risiko, schwer zu erkranken und die Krankheit selbst zu verbreiten und auf der anderen Seite die Strenge der angeordneten Maßnahmen? Wie lässt sich das gesellschaftlich-kulturell einordnen?
Hüter: Wenn ich das Verhalten psychohistorisch betrachte, wage ich einmal die These, dass hier auch eine Abreaktion stattgefunden hat.
Multipolar: Sie meinen, dass die Gesellschaft aufgrund der eigenen Ohnmacht den Druck an die unterste Ebene weitergegeben hat?
Hüter: Genau. Eine Art, dass man die Schwächsten am meisten hat leiden lassen. Die Frage, die sich dazu nach Hannah Arendt stellt, ist, wann Totalitarismus möglich ist. Wenn eine tiefe Vereinzelung der Gesellschaft und eine tiefe unterbewusste Ausweg- und Perspektivlosigkeit zu einem Morgen vorhanden ist, ist das der Moment, in dem Totalitarismus erst greifen kann. In anderen Epochen war das Ventil dann Krieg oder Revolution, also Aggression nach außen. In der Coronazeit ging die Reaktion nach innen, vor allem auf die Kinder. 2020 ist ja schon das „Panik Papier“ an die Öffentlichkeit gelangt, wo herauskam, dass es Strategie der Politik war, die Situation zu dramatisieren und den Menschen, insbesondere den Kindern, Angst zu machen. Diese Zielscheibe auf das Kind war also vom ersten Moment an da.
Als ich damals mit meinem Sohn in Leipzig spazieren gegangen bin, sind wir auch an einem abgesperrten Spielplatz vorbeigekommen. Für ihn bedeutete das ein Zusammenbruch. Kinder erleben die Welt im Kleinen als Ganzes. Die Eltern, die Familie, die Freunde, der Spielplatz: das ist die Welt. Und wenn diese Welt abgesperrt wird und nicht mehr betreten werden darf, ist das rein psychologisch Stress. Hinzu kam, dass ihnen eingeredet wurde, sie könnten ihre unmittelbaren Nahestehenden umbringen, wenn sie dorthin gehen. Wir haben in der Historie viele irrwitzige Phasen gehabt. Dass aber Kinder Lebensgefahr für ihre engsten Nahestehenden bedeuteten, hat es nie gegeben. Und dass bis heute keine Aufarbeitung darüber stattgefunden hat, ist für mich ein kulturelles Versagen.
Bis heute gibt es keine offizielle Entschuldigung bei der nachfolgenden Generation. Herr Lauterbach hatte vor einiger Zeit erklärt, dass die Schulen nicht hätten geschlossen werden müssen – und es folgte kein Aufschrei von Eltern und Pädagogen. Für die Zukunft ist dann die Frage, wie unsere Kinder, wenn sie erwachsen sind, mit uns umgehen werden, wenn sie in vollem Umfang realisieren, wie sie hier missbraucht wurden.
Multipolar: Karl Lauterbach räumte im vergangenen Jahr ein, dass Kinder „die meisten Opfer erbracht“ hätten und „viele Kinder auch heute noch unter psychischen Störungen leiden“. Ihre Gesundheit sei „schlechter geworden.“ Neben psychischen Erkrankungen kam es zu Essstörungen, Entwicklungs- und Sprachdefiziten sowie Gewaltzunahmen. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte wies bereits nach dem ersten Lockdown im Jahr 2020 auf das Problem der sozialen Distanzierung für Kinder hin. Kinder hätten „oft keine gesellschaftliche Priorität“ und würden „als Subjekte mit eigenen Bedürfnissen schnell vergessen“. Haben Kinder in unserer Gesellschaft tatsächlich keine Priorität?
Hüter: In Wahrheit haben sie doch überhaupt keine mehr. Das fing bereits davor schon an, sonst hätte die Gesellschaft so gar nicht agiert. Auch wenn sich jetzt Verbände und andere so äußern, haben Sie zuvor doch letztendlich geschwiegen. Dazu gab es schon im Mai 2021 eine Expertenrunde mit Stefan Hockertz, Christian Schubert, Harald Walach und mir. Von Anfang an war klar, welche Folgen das für die Kinder haben würde. Im Herbst 2020 hatte ich RT Deutsch ein Interview gegeben, wo bereits alle Zahlen und Fakten vorhanden waren, dass Kinder von diesem Virus nicht betroffen sind. 2020 sind 10 und bis Stand Februar 2022 insgesamt 21 Kinder an oder mit Corona verstorben. Diese Kinder waren jedoch zum Großteil schwerstens vorerkrankt. Welchen Wert haben Kinder? Das wäre eine Frage, die sich die Gesellschaft einmal stellen müsste.
Multipolar: Können Kinder, unabhängig von Corona, in unserer Gesellschaft frei und kindgerecht, also im Sinne ihrer Bedürfnisse aufwachsen?
Hüter: Nein. Wie gesagt geht diese Entwicklung schon länger. Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte im Zeitraffer anschauen, haben wir die Zeit, die Kinder außerhalb der realen Wirklichkeit verbringen, also in Kitas und Schulen, im Namen von Arbeit und Konsum massiv ausgedehnt. Das heißt, die breite Masse der Kinder ist immer früher von der Familie und der Öffentlichkeit getrennt worden und verbrachten ihre Zeit in Bildungsreservaten, wie ich sie nenne, immer länger. Dann ist irgendwann auch noch Social Media dazugekommen, wodurch sie die wenige freie Zeit in der nächsten „Matrix“ gefangen sind. Die Konsequenz daraus ist, dass nicht nur Kinder und Jugendliche kaum mehr real in Kontakt oder in Beziehung mit Erwachsenen und der öffentlichen Gemeinschaft kommen, sondern umgekehrt auch nicht mehr die Erwachsenen mit Kindern!
Schon in meinem 2018 erschienenen Buch „Kindheit 6.7“ hatte ich die Frage aufgeworfen, wie viele Menschen mit 0- bis 12-Jährigen im Alltag real überhaupt noch in Berührung kommen. Der Blick auf das Kind ist seit längerem ein rein medialer, und damit ein reduzierter. Vereinfacht gesagt haben wir den realen Kontakt zum Kind weitgehend verloren. Also, wie reagiert das Kind? Was hat es für Ängste und Sorgen? Mit all diesen Bedürfnissen von Kindern kommen wir als breite Gesellschaft schon länger nicht mehr in Berührung. Ebenso wenig mit ihrem Lachen und ihrer Freude. Außer man hat selbst ein Kind. Vor einigen Jahren gab es eine Erhebung, bei der herausgekommen ist, dass Eltern nur noch zwölf Minuten pro Tag mit ihren Kindern sprechen. Das heißt, hier ist im Namen von Arbeit und Konsum ein hoher Grad von Entfremdung passiert.
(...) Es gibt nur noch eine reduzierte Rechts-Links-Debatte, wo übersehen wird, dass sich 40 bis 50 Millionen Menschen, die eigentliche Mitte dieser Gesellschaft, auf keiner Seite mehr wiederfinden können. Es gibt aber nicht nur die politische Mitte, sondern auch eine gesellschaftliche. Und diese gesellschaftliche Mitte sind die Familien und die Kinder. Sie sind das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft.
(...)
Als Kindheitsforscher bin ich davon überzeugt, dass der Umgang mit Kindern in den Pandemiejahren ein Symptom ist. Denn was sich damals ereignet hat, ist in Wahrheit der Ausdruck einer tiefen kulturellen Krise. Die Art und Weise, wie Kinder hier kollektiv zum Objekt gemacht wurden, ist Ausdruck einer tiefer liegenden, sich lange entwickelten Kulturkrise. (...) Hier ist aber eine Verschiebung passiert, die sich über Jahrzehnte in den Coronajahren zum ersten Mal manifestiert hat. Nämlich dass der eigentliche Kinderschutz pervertiert wurde in einen Schutz vor Kindern!Kinder wurden auf dieselbe Ebene gestellt wie Erwachsene. Damit wurde der eigentliche westliche Fortschritt, die sogenannten Kinderrechte, aufgehoben, da man sie den Erwachsenen gleichgestellt hat. Obendrein wurde der Kinderschutz nicht nur praktisch aufgehoben, sondern es wurde noch eine Stufe draufgesetzt, indem gesagt wurde, sie seien eine Gefahr für Erwachsene. Das ist per se eine Pathologie und eine völlige Entfremdung. Denn wie sollen Menschen, die gar nicht aktiv Täter werden können, eine Gefahr sein?
Seitdem geht es weiter, zu sehen an den Themen Gender oder Frühsexualisierung. Das ist die weitere Folge, dass der eigentliche Kinderschutz aufgehoben wurde und dass Kinder permanent zum Objekt der Erwachsenenwelt geworden sind. Wenn wir Kindern kollektiv Schaden zufügen, fügen wir auch unserer Zukunft Schaden zu. Denn Kinder sind die Zukunft einer Gesellschaft. Sie sind die nächste Generation, sie sind das Morgen. Daher mein Satz in dem Film „Können 100 Ärzte lügen?“. Wenn eine Kultur nicht mehr reflektiert, was sie tut, und Kinder radikal zum Objekt macht, kann das nur Ausdruck einer Kultur sein, die in Wahrheit unterbewusst keine Zukunft mehr will. Denn Zukunft heißt, eine Vision für ein besseres Morgen zu haben. Wir machen aber seit Jahren nichts anderes, als die Situation für Kinder zu verschlechtern.
(...)Multipolar: Aktuell haben Sie einen Film mit dem Titel „Der große Mythos“ in Produktion, in dem Ihr Vortrag „Re-Evolution des Menschseins“ eine Rolle spielt. Was hat es damit auf sich?
Hüter: In dem Vortrag gehe ich der Frage nach, ob die Einführung der Massenbeschulung tatsächlich das Ziel hatte, die Kinder zu bilden. Dazu habe ich schon häufig, auch in dem Vortrag, folgenden Satz gesagt: Der Schlüssel zur Macht ist der Zugriff auf das Kind. In diesem jahrhundertelangen historischen Prozess wusste man an einem Punkt aus Erfahrung, dass der Mensch durch Erziehung formbar ist. Die erste Institution in Europa, die das verstanden hatte, war die katholische Kirche. Diese besaß über Jahrhunderte das Bildungsmonopol. Was wir heute Erziehung nennen, nämlich das Kind auf eine gewünschte Weltanschauung hinzuziehen, gab es historisch davor nicht. Als dann die katholische Kirche ihr Bildungsmonopol an die säkularisierten Staaten verloren hatte, haben diese dieses Bildungssystem genauso beibehalten. Dieses Bildungssystem, wie wir es heute in der ganzen westlichen Welt immer noch haben, diente von Anfang an dazu, die herrschenden Ideologien rasch von unten durchzusetzen.
(...)Und zum Thema Schulpflicht: Deutschland ist das einzige Land Europas, das die „Schulgebäudeanwesenheitspflicht“ nach wie vor besitzt. Dieses Gesetz stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. 1938 wurde unter dem Reichsbildungsminister Bernhard Rust die rigorose Schulpflicht im Sinne von Schul- und Bildungspflicht kombiniert, die nur in einem staatlichen Schulgebäude oder in einer staatlich anerkannten Privatschule erfüllt werden konnte. Damit gab es auf jedes Kind einen ideologischen Zugriff. 1938 wurde in Deutschland diese Schulpflicht – respektive Schulzwang – eingeführt und ist bis heute beibehalten worden.
Multipolar: Wie kann es der deutschen Gesellschaft gelingen, dass Kinder in Freiheit und im Sinne ihrer Bedürfnisse aufwachsen?
Hüter: Man müsste den Erwachsenen die Frage stellen, wie sie in Zukunft eigentlich leben wollen. Traumatisierte Kinder, die zu Opfern wurden, werden später zu 70 bis 80 Prozent in irgendeiner Form auch selbst zu Tätern. (...) Man kann letztlich alle krankhaften Erscheinungen einer Gesellschaft darauf zurückführen, wie diese mit Kindern umgeht. Meiner Meinung nach bräuchte es nach Corona eine Art „Marshallplan“ für die nachfolgende Generation. Ein wirklich massiver Hilfsplan auf psychologischer, ökologischer und materieller Ebene. Alle psychosozialen Befunde unserer Kinder und Jugendlichen verschlechtern sich weiter kontinuierlich, obwohl die Maßnahmen aufgehoben wurden. Daran kann man erkennen, wie verheerend sie waren und wie hier eine ganze Generation kollektiv traumatisiert wurde – erstmals außerhalb von Kriegszeiten.
Der deutsche Psychiater Hans-Joachim Maaz hat einmal gesagt: Jeder Krieg ist letztendlich Ausdruck eines Gefühlstaus. Es gibt bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren eine massive Zunahme von Gewaltkriminalität, Suchterkrankungen und Suizidversuchen. Letztere haben sich während des 2. Lockdowns im Vergleich zu den Vor-Corona-Jahren sogar fast verdreifacht! Das ist auch ein Abreagieren des Erlebten der Coronajahre. Das ist jetzt das Ventil. Da ein Abreagieren und ein Sich-äußern-Können in konstruktivem Sinn nicht möglich ist, muss dieser Gefühlsstau irgendwann nach außen. Wenn wir unter Kindern und Jugendlichen nicht noch mehr pure Aggression erleben wollen, müssen die Coronajahre für diese Personengruppe dringend aufgearbeitet werden.
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